Frauentragen
Ein ganz besonderer Gast
Am Adventskranz vor dem Fenster brennen schon drei Kerzen. Ein paar letzte Wintersonnenstrahlen schickt der Spätnachmittag durch den aufziehenden Nebel ins Esszimmer von Familie Unterburger. Der große Kachelofen in der Ecke wärmt behaglich.
Auf dem Tisch stehen zwei Teller mit selbstgebackenen Plätzchen. Es ist der Freitag vor dem vierten Advent. Angela Unterburger und ihre Freundin Rita Bachmeier unterhalten sich leise. Sie warten auf einen Gast.
Für die Muttergottes ist ein Ehrenplatz
an der Eckbank der Familie geschmückt
Es ist kein alltäglicher Gast, der heute zu Besuch kommt und bis morgen unter dem Dach der Unterburgers wohnen wird. Für ihn hat die Gastgeberin schon den Eckplatz auf der Sitzbank geschmückt, mit einer weißen Zierdecke und einer Kerze. Angela Unterburger wird für eine Nacht die schwangere Maria, die Muttergottes, in ihrer Familie aufnehmen.
Helga Schaller und Irmi Beck bringen die Muttergottes zu Angela Unterburger: Sie wird der Madonna heute Nacht eine Herberge gewähren.
„Frauentragen“ heißt der alte christliche Volksbrauch, bei dem im Advent eine Statue der schwangeren Gottesmutter von Haus zu Haus wandert und jeweils für eine Nacht beherbergt wird. Die Menschen erinnern damit an die Herbergssuche von Maria und Josef, die in der Weihnachtsgeschichte des Lukasevangeliums angedeutet ist:
„Und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen.
Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe,
weil in der Herberge kein Platz für sie war.“
Angela Unterburger wohnt in Geisenfeld im oberbayerischen Landkreis Pfaffenhofen. Dort organisiert der Katholische Frauenbund seit vielen Jahren das Frauentragen. Angela Unterburger ist erst zum zweiten Mal „Herbergsmutter“, sie ist vor einem Jahr eher zufällig dazu gekommen. Als sie damals hörte, dass Maria noch nicht für alle Tage ein Quartier gefunden hatte, entschied sie: „Dann nehm ich sie!“
Diesmal hat sie sogar die Aufgabe übernommen, die Herbergsliste zu führen. In den Wochen vor dem ersten Adventssonntag konnten sich alle bei ihr melden, die der Muttergottes Obdach geben wollten. Darunter sind alte und jüngere Leute, Alleinstehende, Paare, Familien.
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Aber auch eine Tagespflege-Einrichtung oder die Schulschwestern, und wie jedes Jahr war die schwangere Maria auch Gast beim Taizé-Gebet. Es sind viele Stationen, die die Gottesmutter zurücklegt, nachdem sie am ersten Adventssonntag feierlich aus der Pfarrkirche ausgesandt wird.
Es schellt. Angela Unterburger und ihre Freundin öffnen die Haustür. Draußen stehen die Nachbarin Irmi Beck und Helga Schalk, die ebenfalls am Ort wohnt. Die beiden Frauen bitten um eine Herberge für Maria:
„Wir kommen, wir fragen, wir klopfen an,
ob Christus, der Heiland, zu euch kommen kann.
Unsere Liebe Frau ist wieder auf Reisen,
wir möchten ihr gern eine Herberg’ zuweisen“,
Helga Schalk hält die schöne schlichte Madonnenstatue, die sie gestern für eine Nacht bei sich aufgenommen hatte. Deutlich wölbt sich unter dem roten Gewand Marias der schwangere Bauch, auf dem ihre schützenden Hände ruhen. Angela Unterburger heißt die Gottesmutter willkommen:
„O, Jungfrau Maria, von Herzen gern!
Tritt ein mit unserem lieben Herrn!
Du bist voll der Gnaden, sei uns gegrüßt,
und gelobt sei dein Sohn, unser Herr Jesus Christ.“
Auch gesungen wird anlässlich des seltenen Besuchs.
Ein Ehrenplatz mit weißem Deckchen: Für Maria ist die Ecknische bereitet, inmitten der Familie.
Behutsam wird die Muttergottes im Körbchen verschnürt, damit sie sicher unterwegs ist zur nächsten Herberge.
Zwei weitere Verse folgen noch, dann zieht Maria ins Haus der Unterburgers ein. Behutsam trägt die Gastgeberin die Figur zu dem vorbereiteten Platz auf der Eckbank. Hier, wo sich das Familienleben abspielt, wird die Muttergottes bis morgen zum Mittelpunkt.
„Es ist tatsächlich so, als wäre ein lebendiger Besuch da“, sagt Angela Unterburger in Erinnerung ans Vorjahr. Irmi Beck und Helga Schalk, die noch auf einen kurzen Ratsch geblieben sind, empfinden es genauso.
Wenn die Muttergottes mit am Tisch ist,
ist jeder ein bisschen achtsamer als sonst
Bei Helga Schalk war Marias Platz mitten auf dem Tisch. Aber ihre anfängliche Sorge, dass Maria im normalen Familientrubel umgestoßen oder beschädigt werden könnte, war unbegründet. „Da ist jeder ein bisschen achtsamer als sonst“, erzählt sie. Eben so, wie wenn Besuch im Haus ist.
Angela Unterburgers Familie, ihr Mann, die 18-jährige Tochter und der 23-jährige Sohn werden erst später nach Hause kommen. Und vielleicht halten sie dann wie im letzten Jahr eine kurze Andacht vor der Marienstatue.
Abendliche Andacht in der Kapelle: Heute steht die Marienfigur im Mittelpunkt der Feier.
Feste Regeln und Vorschriften zum Frauentragen gibt es nicht. Trotzdem hat sich an dem jahrhundertealten alpenländischen Brauch nur wenig geändert. Etwa seit dem 17. Jahrhundert, so beschrieb es der Brauchtumsforscher Hermann Kirchhoff, wurden Statuen der Gottesmutter (oder auch sogenannte Empfängnistafeln) von Haus zu Haus getragen.
„Schon damals wurde der Zug an der Haustüre begrüßt, und die Tafel oder Statue an einen geschmückten Platz im Haus gestellt. Nach einer Hausandacht wurde ausgiebig gegessen und getrunken, danach nicht selten getanzt.“
Nachdem die Freundinnen sich verabschiedet haben, bleibt Angela Unterburger allein zurück mit ihrem Gast. Es ist Marias vorletzte Station.
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Angela Unterburger freut sich, dass sie es heuer geschafft hat, der Muttergottes für jeden Tag des Advents ein anderes Quartier zu besorgen, dass Maria wirklich von Haus zu Haus gewandert ist. Theoretisch könnte Maria natürlich auch zwei Nächte im gleichen Haus bleiben, aber das wollte Angela Unterburger „auf gar keinen Fall“.
Freie Tage auf ihrer Herbergsliste hat sie energisch gefüllt. „Da habe ich dann gezielt Leute angesprochen und auch nicht so leicht locker gelassen“, gibt sie lachend zu. Aber viel Überredungskunst habe es meist ohnehin nicht gebraucht. „Und wer den schönen Brauch einmal mitgemacht hat“, so ihre Erfahrung, „ist meistens im nächsten Jahr gerne wieder dabei“.
Am vierten Adventssonntag kommt
die Marienfigur wieder heim in die Kirche
Aber jetzt ist die Wanderschaft der schwangeren Maria fast vorbei. Morgen Abend wird Angela Unterburger sie in die kleine Kapelle in ihrem Ortsteil Gaden mitnehmen, wo Maria im Mittelpunkt einer kurzen Andacht stehen wird.
Dann bringt sie ihren Gast zu seinem letzten Quartier, bevor die Muttergottes am vierten Adventssonntag wieder „heimgebracht“ wird in ihre Kirche und beim Gottesdienst auf dem Altar steht.
Am nächsten Tag bringt Angela Unterburger die Muttergottes in ihre nächste Herberge.
Text: Rosina Wälischmiller • Fotos: Bethel Fath
Schreiben sie eine E-Mail an die AutorinEin Weihnachtslied aus Oberbayern,
um 1800
WER KLOPFET AN?
1.
„Wer klopfet an?“
„O zwei gar arme Leut!“
„Was wollt ihr denn?“
„O gebt uns Herberg heut! O durch Gottes Lieb wir bitten, öffnet uns doch eure Hütten!“
„O nein, nein, nein!“
„O lasset uns doch ein!“
„Es kann nicht sein.“
„Wir wollen dankbar sein.“
„Nein, nein, nein, es kann nicht sein. Da geht nur fort, ihr kommt nicht rein!“
2.
„Wer vor der Tür?“
„Ein Weib mit ihrem Mann.“
„Was wollt denn ihr?“
„Hört unser Bitten an! Lasset heut bei euch uns wohnen. Gott wird euch schon alles lohnen!“
„Was zahlt ihr mir?““
„Kein Geld besitzen wir!
„Dann geht von hier!“
„O öffnet uns die Tür!“
„Ei, macht mir kein Ungestüm, da packt euch, geht wo anders hin!“
3.
„Was weinet ihr?“
„Vor Kält erstarren wir.“
„Wer kann dafür?“
„O gebt uns doch Quartier! Überall sind wir verstoßen, jedes Tor ist uns verschlossen!“
„So bleibt halt drauß!“
„O öffnet uns das Haus!“
„Da wird nichts draus.“
„Zeigt uns ein andres Haus.“
„Dort geht hin zur nächsten Tür! Ich hab nicht Platz, geht nur von hier!“
4.
„Da geht nur fort!“
„O Freund, wohin, wo aus?“
„Ein Viehstall dort!“
„O Josef, nur hinaus! Ach mein Kind, nach Gottes Willen musst du schon die Armut fühlen!“
„Jetzt packt euch fort!“
„O dieses harte Wort!“
„Zum Viehstall dort!“
„O wohl ein schlechter Ort!“
„Ei, der Ort ist gut für euch. Ihr braucht nicht viel, da geht nur gleich!“