Gipfelkreuz am Tennenmooskopf
Wo sich Himmel und Erde kreuzen
Im Herbst wird es still im Ostertal. Wenn hier, in der südlichsten Gegend Deutschlands, das Vieh von den Allgäuer Alpen in die Täler hinabgetrieben wurde und die Hirten ihre Sommerhütten winterfest gemacht haben, wenn ganz oben schon die ersten Flocken davon künden, was bald kommen wird, dann kommt die Stille. Nur durchbrochen vom monotonen Rhythmus der eigenen Schritte auf dem Kiesweg. Kein Gebimmel der Kühe, kein Hubschrauber, keine Sommerfrischler mit Hagener Dialekt.
Ganz hinten im Tal, im Herzen des Allgäus, kann man an solchen Tagen die Gipfelkreuze des Wannenkopfs und des Höllritzer Ecks und des Riedberger Horns besonders gut sehen, weil der Ostwind von hinten bläst und alles mitnimmt, was irgendwie trüben könnte.
Wie Aufpasser stehen die Kreuze auf den rund 1700 Meter hohen Bergen nebeneinander, jedes für sich, schon, aber auch irgendwie zusammengehörend, als würden sie gemeinsam die Botschaft hinaus ins Land tragen von den Gipfeln, die nichts weiter sind als eine Stufe hinauf zum Himmel.
Am Gipfelkreuz kann man sich beim Herrgott
bedanken, dass alles gut gegangen ist
Am Ende des Ostertals, wo es steil nach oben geht, verschwinden die Kreuze für den Wanderer hinter den hohen Fichten und den grauen Felsen, auf denen der Weiße Mauerpfeffer wächst. Und jetzt, am späten Vormittag im Herbst, wenn die Thermik stimmt, gleitet der Steinadler an den Hängen entlang und sucht nach Hasen und Murmeltieren, nach Gämsen und Alpenschneehühnern.
Irgendwo in der Ferne rumpeln gerade ein paar Felsen über ein Schotterfeld, vermutlich losgelöst von Gämsen, die hier in Rudeln mit bis zu fünfzig Tieren leben. Drüben, Richtung Gunzesried, auf einer großen Almwiese, sammelt einer die Zaunpfähle ein, die letzten Zeugen eines Sommers, in dem sich das Vieh an den Kräutern satt gefressen hat und jene Milch lieferte, die nun in den feuchten Kellern zum Bergkäse reift.
Noch fünfzig Schritte, vielleicht auch hundert, egal, dann taucht es auf, das Kreuz auf dem Höllritzer Eck, in dessen Gipfelbuch zwei Tage vorher einer aus Hamburg geschrieben hat: „Es ist leichter, ein guter Bergsteiger zu werden, als ein alter.“
Und man lehnt sich an dieses Gipfelkreuz an und schaut hinunter und denkt über diesen Satz nach, der wie kaum ein anderer die Gefühle derer beschreibt, die nicht anders können, als sich auf den Weg nach oben zu machen.
So geht es auch der Christel Schmid aus Bobingen nahe Augsburg, die mit ihrer Unterwegs-Gruppe des Alpenvereins zigmal schon diese Allgäuer Gipfel bestiegen hat, sogar im Winter, wenn der Schnee so tief und schwer ist, dass auf drei Schritte voraus zwei nach unten folgen. „Da bist du dem Herrgott dankbar, dass es da heroben ein Gipfelkreuz gibt, an dem man sich dafür bedanken kann, dass alles gut gegangen ist“, sagt sie.
„Ein Berg ist erst dann ein richtiger Berg,
wenn ein Kreuz oben drauf steht“
Nur über eines hat sie sich jahrelang geärgert: dass auf dem Tennenmooskopf, unterhalb des Bleicherhorns und über der Oberen Wilhelmine-Alpe, eben kein Gipfelkreuz steht. Vermutlich, weil dieser Berg nicht ganz so hoch ist wie die anderen und oben Bäume wachsen, was viele dazu veranlasst, ihn zu einem Hügel zu degradieren. „Aber die Schneeschuh-Touren dort hinauf sind eine richtige Herausforderung“, sagt die Christel, „da muss man schon was leisten!“ Und dass sie mit ihren Freunden am Ende der Strapazen bislang immer nur zwischen ein paar Baumstämmen stand, das hat ihr und den anderen schon lange nicht gepasst.
„ANG’SPANNT WERD!“ Der Tag der prachtvollen Rösser beginnt für Martin Mayer und seine Frau Maria in aller Herrgottsfrüh: Der Bauer lenkt bei der Leonhardifahrt in Bad Tölz das Vierergespann vom Pfisterfranzlhof.
Irgendwann, erzählt sie, sei die Idee aufgekommen, den letzten Berg im Allgäu mit einem Gipfelkreuz auszustatten. „Und aufzuwerten“, sagt Christel. „Denn der Tennenmooskopf ist immerhin 1627 Meter hoch – und ein Berg ist erst dann ein richtiger Berg, wenn ein Kreuz oben drauf steht.“
Nicht jeder sieht das so. Vor Kurzem erst, im Sommer 2016, trieb ein Gipfelkreuz-Hacker sein Unwesen in Österreich und Oberbayern und fällte drei dieser christlichen Symbole mit einer Axt. Die Frage kam auf, ob Kreuze auf dem Gipfel überhaupt noch zeitgemäß sind. Die Berge, die doch der ganzen Menschheit gehören, solle man nicht mit einer bestimmten Weltanschauung besetzen, meinte etwa Reinhold Messner.
Die Christel stellt die Kreuze nicht in Frage. „Selbst wenn man nicht besonders religiös ist, so ein Kreuz schadet doch niemand.“ Zudem hätten sich jahrhundertelang die Menschen nicht daran gestört, warum dann also jetzt plötzlich?
Tatsächlich wurden bereits Ende des 13. Jahrhunderts vereinzelt Kreuze auf Pässen und Anhöhen aufgestellt, etwa auf dem Arlberg, dem Grödner Joch oder der Birnlücke. Ein frühes Beispiel für das Aufstellen eines bis ins Tal sichtbaren Kreuzes war jenes auf dem markanten Mont Aiguille in den französischen Alpen im Jahr 1492. Im 16. Jahrhundert dienten die Kreuze schließlich vermehrt der Markierung von Alm- und Gemeindegrenzen, erst während des Dreißigjährigen Krieges gewann die religiöse Symbolik an Bedeutung. Die Blütezeit der Gipfelkreuze begann aber erst im 20. Jahrhundert, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, als im ganzen Alpenraum geschreinert, geschmiedet, geschleppt und eingeweiht wurde.
Den ganzen Sommer über stand sie in ihrer
kleinen Werkstatt und plante und sägte
Christel Schmid ist selbst Schreinerin. So wurde sie beauftragt, das Kreuz für den Tennenmooskopf zu entwerfen und dann zu bauen. Den Sommer über stand sie in ihrer kleinen Werkstatt in Bobingen und sägte aus dicken Brettern sechzehn Kreuzteile, die dann oben auf dem Berg mit Stahlverbindungen zusammengebaut werden sollten.
Eine moderne Form und gut zu transportieren – das war bei der Planung wichtig
Fast fertig: Schreinerin Christel Schmid mit den sechzehn Balken ihres Gipfelkreuzes
Mit vereinten Kräften wird das Schmuckstück auf dem Tennenmooskopf errichtet
Nur die besten Holzstücke verwendete sie von dem abgelagertem Lärchenholz, denn jeder Ast und jeder Riss würde später am Berg die Verwitterung vorantreiben. „Ich wollte eine moderne Form, die leicht zu transportieren ist“, erklärt sie, „denn selbst wenn wir die Sachen mit dem Auto hoch transportieren können: Die letzten 300 Höhenmeter geht’s auf jeden Fall zu Fuß.“
Nach dem Sägen schliff sie die Balken und fräste die Kanten leicht ab, damit keine Regentropfen hängen bleiben – wobei das Holz eh ganz unbehandelt bleibt und im Laufe der Zeit ohnehin verwittert. Christel Schmid sagt allerdings nicht „verwittern“: Der natürliche Rohstoff Holz gehe eine Verbindung mit der Natur ein, was man ruhig im Laufe der Jahre durch eine Grauverfärbung sehen dürfe. Rund 1400 Euro kostet das Material, das von der Alpenvereinsgruppe und durch Spenden finanziert werden.
Der Grund gehört den Bayerischen Staatsforsten, und auch
mit den Viehhirten musste man sich erst einigen
Auf dem Boden ihrer Schreinerei liegt das Kreuz in Originalgröße ausgelegt, zur Probe mit Abfallbrettern. Christel schmunzelt über die Frage, ob die Form eines Kreuzes so kompliziert sei, dass man dafür ein Modell brauche. Tatsächlich nämlich war der erste Entwurf zu klein geraten, und als sie mit ein paar Bergkameraden eine Stellprobe auf dem Tennenmooskopf machte, sahen alle ganz schnell, dass dieses Gipfelkreuzlein kein Gipfelkreuz war. Deshalb das Muster, und deshalb ließ sich die Schreinerin von nun an auch nicht mehr dreinreden. Für die anderen gab es schließlich noch genug zu tun.
Der Grund gehört nämlich den Bayerischen Staatsforsten, und mit ihnen musste erst abgeklärt werden, ob man dort überhaupt ein Kreuz aufstellen darf. Das wurde aber umgehend und völlig unbürokratisch positiv beschieden. Mit dem Viehhirten, der auf dem Tennenmooskopf im Sommer rund hundert Rinder betreut, wurde die genaue Stelle vereinbart, damit sich seine Tiere später nicht an den verspannten Halteseilen aufscheuern können. Dann erst konnten das Fundament gegossen und die Verankerungsstangen im Fels befestigt werden.
Still ist es im Herbst im Ostertal. Nur die Wandergruppe steigt fröhlich zum Tennenmooskopf hinauf, um ihm ein Gipfelkreuz zu schenken
Jetzt ist es Oktober geworden, und an einem Samstagvormittag machen sie es wahr: An die zwanzig Leute steigen hinauf zum Tennenmooskopf, ein rund einstündiger Marsch nach oben auf schmalen Wegen und am Ende über eine sumpfige Almwiese. Jeder trägt ein bisschen was vom Kreuz, jedes einzelne Teil gut eingepackt in gepolsterte Folie, damit bei einem Sturz nichts passiert.
Während mit jedem Höhenmeter der Puls schneller und die Atemzüge immer tiefer werden, erzählen sie einander von herrlichen Sternenhimmel-Nächten am Berg. „Für uns und viele andere aus der Sektion des Alpenvereins sind diese Berge rund um das Gunzesrieder Tal ein Teil unserer Jugenderinnerungen“, sagt Gerd Schönwolf, einer der Helfer. Und dann reden sie noch vom Alois, der hier seine Frau das erste Mal getroffen hat, eine Preußin, die Angst vor dem Abstieg hatte, weswegen sie an der Hand genommen werden musste, und dann vom Bruder vom Thomas, der heute in Sri Lanka lebt. „Gibt’s da Gipfelkreuze?“, fragt einer, der eine der langen Stangen trägt, aber aus dem Stegreif niemand weiß eine Antwort.
Erst wird das Kreuz im Gras zusammengebaut, dann
packen alle mit an, um es gemeinsam aufzustellen
Oben angekommen, werden alle Teile ausgelegt, im Gras bauen sie das dreieinhalb Meter lange Kreuz nach Christel Schmids exaktem Plan zusammen. Knapp zwei Stunden dauert das, dann bringen viele starke Arme und lange Stangen das Werk in die Senkrechte. Jetzt noch im Fundament verschrauben – und da steht es nun. Schlicht und doch prächtig. Die Gruppe klatscht und beglückwünscht sich und Erinnerungsfotos werden gemacht, denn so was passiert ja nicht alle Tage.
Ein Flachmann macht die Runde, und am Ende streichen die meisten nochmal über das glatte, duftende Holz, aber nicht so, als wäre es der Abschluss dieses Projekts, sondern erst der Anfang. „Jetzt wird jeder Aufstieg noch schöner“, freut sich Schönwolf, „egal ob im Sommer bei Wanderungen oder im Winter mit Schneeschuhen und Tourenski.“
BEHÜT' UNSER VIEH! Der 6. November ist für die Bauern ein Festtag: Mit Umritten und prächtigen Pferdegespannen ehren sie den heiligen Leonhard – einen französischen Einsiedler, der einer der beliebtesten Heiligen des Alpenland wurde.
Er und seine Freunde kennen den Berg inzwischen ganz genau. Bei den Touristen ist er jedoch noch unbekannt, er taucht zwar in den Wanderkarten auf, doch er steht auf keinem der Wegweiser erwähnt, die unten vom Tal aus verschiedene Touren anbieten. „Durch das weithin sichtbare Kreuz wird sich das ändern“, glaubt Christine, eine Helferin. „Und das ist fast wieder ein bisschen schade, denn bislang war dieser Berg ein Rückzugsgebiet für diejenigen, die in aller Ruhe auf dem Gipfel ihre Brotzeit machen wollten.“
Als das Kreuz fertig war, schloss sie ihre Werkstatt.
Die Handarbeit lohnte sich nicht mehr
Die 35-Jährige aus Augsburg kennt einen nicht ganz ungefährlichen Jägerweg auf der Nordseite des Berges, hinunter in Richtung Rappengschwendalpe, wo es in der Wintersaison nicht nur hausgemachte Kuchen gibt, sondern auch eine grandiose Käseplatte. Ihr Weg führt vorbei am Naturschutzgebiet, in dem Birk- und Auerhühner leben, durch einen dichten Wald, und manchmal, wenn sie Lust hat, setzt sie sich einfach auf einen Baumstumpf und schaut. Und atmet tief ein. Und schließt die Augen. Und schaut wieder.
„Was gibt es Schöneres auf der Welt“, sagt sie, „als einen Flecken Erde, der uns nicht nur körperlich fördert, sondern uns auch immer wieder daran erinnert, dass man dem Himmel dann besonders nah ist, wenn alles um einen herum wie ein Wunder wirkt!“
Wenn im Frühjahr am Tennenmooskopf der Schnee geschmolzen ist und der Viehhirte die hölzernen Verschläge seiner Alpe öffnet, dann soll am neuen Gipfelkreuz eine Bergmesse samt Segnung stattfinden. Christel Schmid, die Schreinerin, wird dann ganz bestimmt dabei sein, denn das Kreuz war das letzte Stück, das ihre Werkstatt verlassen hat. Tags darauf verkaufte sie ihre Maschinen, weil sich ihre Handarbeit nicht mehr gelohnt hat. Natürlich ist sie deswegen ein bisschen traurig gewesen.
Andererseits: Wann immer sie in Zukunft ins Allgäu fährt, wenn sie das Ostertal hinterläuft und die Gipfelkreuze sieht, auch ihres, dann ist das mehr als eine erfreulicher Anblick und ein Ziel vor Augen. Es ist ein Heimkommen.
Text: Peter Hummel • Fotos: Bernhard Huber
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Gipfelkreuze findet man meist in katholisch geprägten Gegenden.
Deshalb steht zum Beispiel keines auf dem Gipfel des höchsten schottischen Berges Ben Nevis, auch nicht auf dem Mont Blanc, dem Mount Whitney oder dem K2. Dafür wehen etwa auf vielen Gipfeln tibetische Gebetsfahnen. Auf dem höchsten Berg Tunesiens, dem Diebel Chambi, ist ein Halbmond.
Während der Kreuzzüge wurden Gipfelkreuze oft als Markierung eingesetzt. Die weit einsehbaren Kreuze sollten den Nachkommenden den Weg zeigen.
Die Zugspitze, Deutschlands höchster Berg (2.962 m), erhielt 1871 ihr erstes Kreuz. Da stand das Gipfelkreuz auf Österreichs höchster Spitze, dem Großglockner (3.798 m), schon eine Weile. Er erhielt sein Gipfelkreuz im Jahr 1799.
In Bayern steht das größte Gipfelkreuz auf der Kampenwand: Es ist 12 Meter hoch.
Auf dem Gipfel der Buchsteinwand im Pillerseetal (Österreich) steht das größte begehbare Gipfelkreuz der Welt. Es wurde 2014 errichtet, ist 30 Meter hoch und es gibt darin sogar Räume für Hochzeiten, Seminare oder Ausstellungen.
WANDEREMPFEHLUNG
Hier geht’s zum Gipfelkreuz aus der Reportage:
Vom Wanderparkplatz Ostertal geht es über die Hollritzer Alpe aufs Hollritzer Eck (1669 m) und von dort auf das nur zehn Minuten entfernte Bleicherhornn (1662 m). Dann weiter auf den darunter liegenden Tennenmooskopf und schließlich hinunter ins Gunzesrieder Tal.
Dort, im Ortsteil Säge, unbedingt in der Alpe Gerstenbrändle einkehren und einen alten Bergkäse mitnehmen (das Pfund für 8 Euro). Die Kühe, aus deren Milch diese Spezialität von der Sennerin gemacht wird, grasen in unmittelbarer Nähe.
Insgesamt ist diese Tour rund 15,5 Kilometer lang, sehr gut ausgeschildert und die Wege sind befestigt. Allenfalls bei nasser Witterung kann es beim Abstieg vom Hollritzer Eck etwas matschig werden. Rund fünfeinhalb Stunden dauert die Tour, sie hat 600 Höhenmeter.
Die Tour liegt im Naturpark Allgäuer Nagelfluhkette, es darf also nicht abseits der Wege gegangen werden.